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Der neue Wilde – Das Woods Art Institute

Im Wentorfer Villenviertel bei Hamburg hat der Sammler Rik Reinking das Woods Art Institute eröffnet. Auf dem verlassenen Areal befinden sich eine Vielzahl an Gebäuden.

Ein 100-jährigen Park, ein Herrenhaus, Kreativwerkstätten und ein Hofcafé sowie 22 Ausstellungsräume für Reinkings Gegenwartskunst.

Eigentlich war an dem Sommermorgen 2019 alles wie immer. Der Gärtner drehte auf dem Rasentraktor seine Runden über das Anwesen, umkreiste die Streuobstwiese und die Gruppen aus Goldulmen, Silberlinden und Blutbuchen. Doch was war das? Unter einem der alten Bäume saß ein Chinese – nackt! Wenig später klärte Rik Reinking den verschreckten Gärtner auf: Es war der Künstler Terence Koh, der sich damals im Woods Art Institute aufhielt, bei seiner morgendlichen Yogasession.

Dessen Arbeiten begann der Hamburger Sammler zu erwerben, als dieser gerade international durchstartete, so zahlreich, dass er nun die 16 Räume einer 1960 von Asmus Werner errichteten Sprachheilschule mit ihnen bestücken kann, dem Herzstück des Kunstcampus. Eine wunderbare Gelegenheit, dem Wesen des rätselhaften Künstlers nachzuspüren, seinen Grabstein zu entdecken, auf dem Blätterschatten im Sonnenlicht wie auf einem echten Friedhof tanzen. Man staunt über seine 88 Glasstelen in einer Turnhalle, in der noch Taue und Ringe von der Decke baumeln, und darüber, dass sich unter den meist mit weißer Wandfarbe überzogenen Werken massive Bronze, in 24 Karat vergoldet, verbirgt.

[ngg src=“galleries“ ids=“60″ display=“pro_sidescroll“]Die Sammelleidenschaft Reinkings wächst in viele Richtungen. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Existenz. Das Leben und Vergehen. »Es ist etwas zutiefst Menschliches, das alle Aspekte der Sammlung miteinander verbindet, generations- und kulturkreisübergreifend«, so Reinking, dem man früh den Stempel »Deutschlands jüngster Sammler« aufgedrückt hatte, weil er als 16-Jähriger von seinem Ersparten einen Horst Janssen für 250 Mark kaufte. Heute fasziniert ihn Kunst, die unbequem ist, die Emotionen provoziert, wie Schmerz oder Euphorie.

»Das alles kumuliert im Werk Terence Kohs«, erläutert Reinking. »Er ist einer der relevantesten Künstler der 2000er-Jahre, niemand war konsequenter, maßloser, von dem Spiel mit Identitäten bis hin zu Themen wie Tod und Wiedergeburt. Er geht ans Existenzielle, das ist mir sehr verwandt.« So erklärt sich auch Reinkings Interesse an indigenen Artefakten, an Schädeln aus Vanuatu oder Fetischen aus Afrika, die ihn an die ursprüngliche Bedeutung der Kunst im Zusammenhang mit menschlicher Entwicklung erinnern.

Sein drittes Sammlungsgebiet sind Künstler der Hamburgischen Sezession wie Arnold Fiedler, Fritz Flinte und Richard Haizmann. Bei aller Freude am Sammeln geht es ihm jedoch nicht darum, zu besitzen. Wie viele Stücke er hat? »Keinen blassen Schimmer«, lautet die Antwort. 

Er möchte die Kunst sichtbar machen, weil sie für ihn erst lebt, wenn man über sie diskutiert, streitet, sich freut. Deshalb suchte er schon länger nach einem Ort, »aber keine Schatzkiste zum Auf- und Zuklappen«. Als ein befreundeter Immobilienentwickler ihm von einem Grundstück erzählte (»Ich habe da vielleicht was für dich. Du bist verrückt genug, das zu machen.«), horchte er auf. Die Rede war von einem verwilderten Areal, halb so groß wie die Binnenalster, darauf ein desolates Herrenhaus von 1914, reetgedeckte Wasch- und Torhäuser mit farbigem Fachwerk von 1921 und ein Boarding-House aus den 1940er-Jahren.

Das sei kein Projekt, das sei ein ganzes Dorf, witzelte ein Freund, als Reinking ihm das Grundstück zeigte. Und dennoch steckte in dem Umschlag, den er 2017 beim Meistbieterverfahren einreichte, die höchste Angebotssumme.

Nach dem Zuschlag kam die Ernüchterung: »Auf einmal hatten wir die Verantwortung für eine ganze Liegenschaft mit mehreren Gebäuden«, erinnert sich Reinkings Frau Anna-Julia. »Als wir im Dezember die Schlüssel erhielten, haben wir drei Nächte lang schlecht geschlafen, dann haben wir losgelegt«, ergänzt ihr Ehemann und lacht. Man merkt ihm an, dass ihn große Aufgaben eher reizen als abschrecken. Aber nicht auf die kopflos-draufgängerische Art, sondern mit einem Mix aus Weitsicht, Vorsicht und Tatendrang – und der nötigen Vorstellungskraft.

»Ich sah gleich zu Beginn alle Häuser fertig saniert vor mir.« Heute sind die Instandsetzungsarbeiten so gut wie abgeschlossen. Über der früheren Kutscheneinfahrt des Torhauses leuchtet wieder die altflämische Inschrift Weltevreden (Wohlzufrieden), im Waschhaus gibt es ein Hofcafé und den Garten schmücken Skulpturen wie ein Brunnen von Daniel Spoerri und Eisenstelen von Antony Gormley.

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Das alles gelang, weil der 45-Jährige auch häufig selbst mit angepackt. Als er etwa die 20 Zimmer des Sommersitzes  
inspizierte, den sich der belgische Kaufmann Georges Fester im Tudorstil hatte bauen lassen und der während des Nationalsozialismus als Müttergenesungsheim, dann als Bleibe für sogenannte Wolfskinder diente (»Mit den vielen Klos und Waschbecken hätten wir einen Laden aufmachen können.«), vermutete er ein Fenster auf der verschalten Südseite.

Er klopfte die Stelle mit dem Hammer frei und siehe da, fand es genau dort. Er ließ Rosetten nachschnitzen, suchte nach antiken Fensteroliven und wählte für die eindrucksvollen Säle, die für Events gemietet werden können, historische Tapetenmotive von Josef Frank aus, die mit ihren Vögeln, Bäumen und Bächen wirken, als hätte dieser sie eigens für den Park entworfen. Auch das grüne Idyll, das zwei Weltkriege überstanden hatte, wollte Reinking wieder so herrichten, wie es von dem Landschaftsarchitekten Rudolph Jürgens (1850–1930) geplant worden war: in Form eines bewegten Geländes, das die Urgewalten symbolisierend zum Tal der Bille 48 Meter in die Tiefe hinabbricht.

Er ließ wuchernde Brombeerwinden und Rhododendronwälder lichten, deren verworrene Stämme jetzt märchenhafte Arkaden bilden und, nach akribischer Recherche in Fotoalben, alte Baumgruppen freilegen. »Ich bin überall mit dem Laubbläser langgegangen, um die alten Wege, Brücken und Treppen zu finden«, so Reinking, dem Weimaranerhündin Frieda auf Schritt und Tritt folgt. Als Nächstes will er das Freischwimmbad, ein bröckelndes Oval, in Angriff nehmen, in dem in den 1920er-Jahren die Nachbarskinder schwimmen lernten.

»Wenn man Rendite anders betrachtet, ist sie hier ganz schön hoch: eine Baumsammlung nahe der Großstadt und ein Ort für Familien, an dem sie den Dreiklang aus Architektur, Natur und Kunst erleben«, sagt der Sammler und folgt nun Frieda zu einem Baumstamm, um einen tellergroßen Steinpilz abzuschneiden. »Auf diesem Plateau darf die Kunst einfach sein. Es ist ein Ort für Menschen, die das Bedürfnis haben, etwas über sich zu erfahren und sich auf das, was Künstler mitzuteilen haben, einzulassen«, fährt Rik Reinking fort. »Ein Ort, der mitwächst an den Besuchern und den Künstlern, die kommen und gehen. Das gibt Energie und macht frei. Es ist eine kleine Utopie, eine Insel.«

 

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