Aufträge für ihre exklusiven Wandgemälde blieben in der Pandemie aus. Also schrumpfte Rachel Spelling ihre Kunst und bemalte winzige Farbkarten mit großem Erfolg.
Es ist still, nur der Wind rüttelt an dem dünnen Fensterglas ihres Ateliers im äußersten Südosten Londons. Rachel Spelling sitzt kerzengerade vor einer Farbmusterkarte, den Pinsel in der linken Hand, und tupft weiße Licht reflexe auf eine Pupille, um sie noch realistischer aussehen zu lassen. »Wenn ich Augen male, er reiche ich meinen höchsten Konzentrationslevel«, sagt die 47Jährige und lächelt zufrieden. »Das ist extrem erfüllend und ein bisschen so wie das Gefühl, welches ich als Kind beim Zeichnen und Basteln hatte.« Tatsächlich empfindet die Britindas Malen auf den nur radiergummigroßen Mini Leinwänden als eine »große Befreiung«. Endlich kann sie ausschließlich ihre eigenen Ideen realisieren – obwohl sie dafür ihre bisherige Arbeits weise radikal veränderte.
Bis zur Pandemie nämlich stand Rachel Spelling, die am renommierten Central Saint Martins College Bildhauerei studiert hat, im weißen Overall auf Leitern in vornehmen Londoner Villen, um nach Kundenwünschen ganze Wände mit verwunschenen Gärten oder Kinderzimmer mit Zirkuszelten zu bemalen. Als sie dann eines langen Lockdown-Tages auftragslos am Küchentisch saß, begann sie die vielen Ideen, die in ihrem Kopf umherschwirrten, auf Farbmuster-Leporellos von Farrow & Ball zu malen, die sich bei ihr angesammelt hatten. Die britische Manufaktur entdeckte die Arbeiten auf Spellings Instagram-Seite, beauftragte sie, weitere Vignetten zur Einführung neuer Trendfarben zu fertigen – und das Projekt verselbstständigte sich. »Ich wechselte von riesigen Murals zu winzigen Miniaturen und stieß dabei auf einen Raum, der genau in der Mitte zwischen den Welten der Kunst und des Interieur designs liegt und von dessen Existenz ich nichts wusste«, so die Künstlerin. »Es ist ein Ort voller Möglichkeiten, in dem ich mich ganz zu Hause fühle. Also bin ich eingezogen.«
Ihre neueste Faszination gilt Vintage Farbkarten aus Amerika: echte Raritäten, leicht vergilbt und mit Stockflecken, aber noch immer bedeckt mit leuchtenden Tönen. So wie etwa die Übersicht von
Sunray Paint aus dem Jahr 1930 oder die Dulux Karte von 1963. Darauf verzierte Spelling den Ton Wedgewood Blue, passend zu den Sixties, mit einem Jackie-Kennedy-Porträt, die Nuance Butter milk mit einem Telefonhörer und Lilac mit einem Gugelhupf auf einer Etagere. »Es sind interessante Zeitzeugnisse. Die Farbskala reflektiert eine optimistische Dekade in der amerikanischen Geschichte, den Lifestyle der 50er und 60erJahre und den Stolz der amerikanischen Mittelklasse, Wände im eigenen Haus farbig zu streichen.«
Inspirationen für Retromöbel und Fashionaccessoires findet die Künstlerin oft in alten Ausgaben der Vogue, neuere Styles im britischen Kultmagazin The Face. Eine Myriade anderer Dinge, vom Hotdog bis zur Weidelandschaft, hält sie mit ihrer Kamera fest. »Wenn ich in London unterwegs bin oder auf Reisen«, sagt Rachel Spelling und lacht, »sehe ich in meiner Umgebung mittlerweile ohnehin überall nur noch Miniaturen.«