»Ich brauche für meine Bilder extreme Ersterfahrungen!«
Michael Najjar
Wer Michael Najjar zum Gespräch trifft, kann nicht ahnen, was ihm blüht. Da sitzt ein aufgeräumter Mittfünfziger, der mit ruhiger, klarer Stimme über seine Arbeit erzählt. Die nächsten zwei Stunden sind dann allerdings ein Parforceritt in schwindelerregende Höhen und auf höchste Türme. Es geht um die Besteigung eines Siebentausenders, Erlebnisse vom Weltraumtraining, den freien Fall aus zehn Kilometern Höhe – und um Fotos.
Michael Najjar, du präsentierst hier Fotos aus verschiedenen Serien, die in vielerlei Hinsicht unglaublich sind. Wie entstehen solche Arbeiten?
Es ist immer eine Mischung aus akribischer Recherche, Bildkonzeption, Shootings an extremen Locations und monatelanger Arbeit in der Postproduktion am Rechner. Die eigene Erfahrung ist die Basis für meine künstlerische Arbeit.
Das klingt interessant, aber so richtig kann ich es mir noch nicht vorstellen. Kannst du ein Beispiel geben?
Für die Serie netropolis, in der es um die urbane Verdichtung und Vernetzung im digitalen Zeitalter geht, bin ich in vielen Megacitys auf die jeweils höchsten Gebäude gestiegen, um von dort Fotos zu machen. Ich habe in alle vier Himmelsrichtungen fotografiert und die Bilder dann später mit einem selbst entwickelten Algorithmus in verschiedenen Dichtegraden ineinandergerechnet. Der erhöhte Blick und die Draufsicht transformieren die ausufernde Stadt dabei zur abstrakten Landschaft über die Grenzen des Bildes ins Unendliche. Die Serie ist inspiriert von Jackson Pollocks drip paintings und Fritz Langs Stummfilm Metropolis.
Hat man dich überall mit offenen Armen empfangen?
Na ja. Die Aufnahmebedingungen sind komplex. Du kannst erst am Morgen entscheiden, ob Wetter und Lichtverhältnisse stimmen. Die Genehmigungen müsstest du aber Wochen vorher genau datiert haben. Ich bin das pragmatisch angegangen, manchmal bin ich im Anzug mit Aktenkoffer und meiner Kamera darin in den Geschäftstowern nach oben gefahren, als würde ich dort regulär arbeiten.
Und das gab keine Probleme?
Ab und zu schon. In Dubai war im World Trade Centre die oberste Plattform gerade im Umbau. Im weißen Anzug kam ich bis oben rauf, doch dann stoppte mich die Security. Ich behauptete spontan, ich sei der Architekt und müsse nach dem Rechten sehen. Hat funktioniert. Als die Arbeiter Mittagspause machten, bin ich aus den offenen Fenstern auf kleine Vorsprünge am Gebäude gestiegen, einmal rumgelaufen und habe meine Fotos gemacht.
In 150 Metern Höhe??
Ja. Wenn es darum geht, meine Bilder zu bekommen, bin ich immer sehr zielfixiert; riskante Situationen gehören oft dazu.
Danach kam deine Serie high altitude. Ging es um Höhenrausch?
Ich war damals fasziniert vom Einfluss neuer Technologien auf die Finanzmärkte. Der physische Marktplatz hat sich plötzlich in die Immaterialität des Rechners verlagert. Und mir fiel eine Analogie zwischen Finanzwelt und Bergsteigen auf.
Wie bitte?
Es geht letztendlich in beiden Bereichen um Risikomanagement. Erklär ich gleich. Jedenfalls wollte ich einen Siebentausender besteigen. Bergsteigerfahrung hatte ich nicht. Monatelanges Training, minu-tiöse Vorbereitung, Flug nach Argentinien zum Aconcagua. Mit Bergführern, Sherpas und Kameraequipment begann der Aufstieg. Auf 6500 Metern kamen wir nicht weiter, mein Bergpartner konnte nicht mehr. Der Bergführer wollte abbrechen, aber ich wollte unbedingt nach oben, so kurz vor dem Ziel. Wir haben einen zweiten Versuch unternommen – und es dann auf den Gipfel geschafft.
Klingt ein bisschen verrückt.
Nein. Es geht um mentale und physische Grenzerfahrungen. Auf dem Gipfel habe ich vor Erschöpfung und Glück geheult. Der Sauerstoffmangel führt zu Realitätsverzerrung. Ich wollte in die Tiefe springen, dachte, ich könnte fliegen! Ich hatte die Kamera schon voreingestellt und habe dann nur noch auf den Auslöser gedrückt.
Das alles für ein paar schöne Bilder von Bergen?
Es ging nicht nur um schöne Bilder. Es ging darum, ein Konzept durchzuziehen, und dafür brauchte ich bestimmtes Bildmaterial. Und der Aufstieg hat mir die vermu-tete Analogie zwischen Finanzmarkt und Bergsteigen bestätigt. Am Anfang achtest du noch auf jedes Detail, jeden einzelnen Schritt. Aber je weiter und vor allem je höher du kommst, desto mehr schwächt der Sauerstoffmangel dein Risikomanagement. Euphorie und Adrenalin übernehmen die Kontrolle. Sauerstoffmangel ist in den Finanzmärkten mit fehlender Liquidität gleichzusetzen.
Und das zeigen jetzt die Fotos von Bergkämmen?
Ich habe sie digital bearbeitet. Pixel für Pixel verändert. Die Kammlinien entsprechen jetzt den Kursentwicklungen der wichtigsten Börsenindizes über einen Zeitraum von 30 Jahren: Dow Jones, Nasdaq, Nikkei, Dax. Ich wollte etwas Immaterielles wieder sichtbar machen.
Einige Bilder scheinen schon sehr irreal. Passt ja zur Finanzwelt.
Stimmt. Es war ein magischer Moment, als wir auf dem Gipfel standen. Da dachte ich: Jetzt muss ich in den Weltraum.
Das ist ja naheliegend. Nein, im Ernst …
Es war gerade die Zeit, als die Nasa ihr Shuttle-Programm eingestellt hatte; immer mehr private Anbieter drängten in dieses Vakuum. Es war einer dieser turning points in der Geschichte, die mich so faszinieren.
Wie bist du vorgegangen?
Es begann erst mal eine lange Recherche. Bis dahin waren nur circa 550 Menschen im All gewesen. Ich wollte auch ins All fliegen! 2011 nahm ich Kontakt zu Virgin Galactic auf, dem Unternehmen von Richard Branson. Die sagten, klar, ich könne mitmachen, aber ich müsse ein reguläres Ticket kaufen. 250 000 Dollar. Drei meiner Sammler haben mir das Ticket dann finanziert.
Was hat dich als Künstler daran so fasziniert?
Mich interessiert die kulturelle und soziale Dimension, die der Übergangsprozess hin zu einer größeren menschlichen Präsenz im Weltraum eröffnet. Ich wollte auch wissen, wie sich professionelle Astronauten vorbereiten. Ich nahm Kontakt zu Star City, dem russischen Trainingscenter, auf. Das war nicht einfach. Nach über einem Jahr und Hunderten von Mails und Telefonaten haben sie zugestimmt. Ich durfte mit den Kosmonauten trainieren: in einer umgebauten Transportmaschine 30 Sekunden Schwerelosigkeit während der Parabelflüge. Spacewalk-Training an einem Modell der Raumstation in einem gigantischen Hydrolab, im Weltraumanzug zwölf Meter unter Wasser. Haben wir akribisch vorbereitet, detaillierte Storyboards, Lichtplanung, ein weiterer Fotograf und Kameramann mit mir in der Tiefe. Insgesamt waren 45 Leute beteiligt, ich war zwei Stunden unter Wasser.
Uff!
Das Anstrengendste war der Flug mit einer MiG-29 in die Stratosphäre. Doppelte Schallgeschwindigkeit, 50 Minuten Manöver. G-Kräfte trainieren. Du verlierst völlig die Raumorientierung. Oben, unten, links, rechts, löst sich alles auf. Ich wollte unbedingt eine dreifache Drehung um die eigene Achse fliegen. Brauchte ich für meine Videoarbeit. Da wirken Kräfte des Siebenfachen deines Körpergewichts auf dich ein. Das Blut wird aus dem Kopf rausgepresst, ich war kurz vor der Bewusstlosigkeit. Auf einer US-Militärbasis habe ich einen HALO-Tandem-Fallschirmsprung aus 10 000 Metern Höhe gemacht. HALO steht für High Altitude Low Opening, also aus großer Höhe springen und den Fallschirm spät öffnen. Zwei Minuten freier Fall Richtung Erdoberfläche bei 300 km/h. Wir hatten drei Kameraleute in der Luft, ich selbst hatte sieben Kameras am Körper. Das war die reinste Form von Gravitationserfahrung – der freie Fall. Daraus ist später eine tolle Videoarbeit entstanden. Und es war eine Vorbereitung für den Flug ins All. Ich will die Erde von oben sehen.
Was kann danach noch kommen?
Ich arbeite schon an einer neuen Serie, die setzt sich mit unserer planetaren Zukunft in Zeiten des Klimawandels sowie der Rolle neuer Klimatechnologien auseinander. Der Anstieg der Erdtemperatur auf über zwei Grad würde diverse Kipppunkte im Erdsystem aktivieren, die ein bislang stabiles System in ein chaotisches verwandeln und unsere zivilisatorische Existenz gefährden würden. Geoengineering ist ein wichtiges Thema: Wie kriegen wir das CO2 wieder raus aus der Atmosphäre? Maßnahmen wie aktive CO2-Absorption aus der Luft, Einbringung von Aerosolen in die Stratosphäre, Weltraumreflektoren, Aufhellung von Wolken, Produktion von Polareis und Ocean-Farming gehören zu den Instrumenten des Climate-Engineerings. Werden wir alles brauchen.
Aber wie fotografiert man das?
Unterschiedliche Ansätze. In Island habe ich einen Vulkanausbruch aus allernächster Nähe fotografiert, musste aufpassen, nicht von herumfliegender Lava getroffen zu werden. Kürzlich war ich auf Expedition in der Hocharktis. Die Westküste Spitzbergens rauf bis zum Nordpol-Packeis. Spitzbergen ist der sich am schnellsten erwärmende Ort auf der Erde! Die Arktis ist der Hotspot des Klimawandels.
Dabei sind extreme Bilder entstanden.
Ja, schon, aber entscheidend ist natürlich immer das Konzept. Was transportiert das Werk am Ende für einen Inhalt, für eine Aussage? Es geht mir dabei nie um das Abbilden von Realität, sondern um die Konstruktion von Realität. Wie bei meinem Triptychon lunar explorers: Man sieht zwölf Astronauten auf der Mondoberfläche arbeiten. Das sind alle Astronauten, die im Rahmen der sechs Apollo-Missionen den Mond betreten haben. Aber gemeinsam. Die Arbeit ist aus Hunderten von Originalaufnahmen der Nasa komponiert. Die Mondlandung hat gezeigt, dass Menschen scheinbar unmögliche Unternehmungen vollbringen können. Und im Kontext des Klimawandels ist das jetzt dringend wieder vonnöten.
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