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Viviane Sassen: Surreal, aber Sensibel

Die Holländerin sucht immer nach neuen Ausdrucksformen der Fotografie. Der Lohn: Hochdekorierte Arbeiten für Kampagnen von Luxusmarken. 

Das Portfolio

»Eigentlich meiden Fotografen das gleißende Mittagslicht. Aber genau das habe ich als ­­Stilmittel für mich entdeckt.«

Das Interview

Etwas außer Atem kommt Viviane Sassen in ihr Loftatelier, das sich gleich hinter der Amsterdamer Prinsengracht versteckt. Zwischen Polstern und Palmen liegen Fotos und Polaroids, auf der Terrasse landen zwei grüne, frei lebende Papageien. Die 51-Jährige war noch schnell beim Rahmenmacher – letzte Vorbereitungen für ihre Retrospektive mit mehr als 200 Arbeiten im Maison Européenne de la Photographie (MEP), Paris.

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Viviane Sassen

Viviane, wussten Sie, dass wir etwas gemeinsam haben?

Ach, wirklich?

Wir haben beide unsere Kindheit in Kenia verbracht …

Wow, das wusste ich nicht. Ich bin in Nyabondo nahe des Victoriasees aufgewachsen. Mein Vater arbeitete dort als Arzt. Ich habe so viele lebhafte Erinnerungen an diese Zeit. Ab und zu habe ich ihn in abgelegene Dörfer begleitet. Natürlich hatte es sich herumgesprochen, dass er kam, sodass sich die Mütter mit ihren Babys unter einem großen Baum versammelten, um ihren Check-up zu bekommen. 

Welche Bilder und Eindrücke kommen Ihnen bei dem Gedanken an Ostafrika noch in den Sinn?

So viele. Rispa, meine Nanny, die immer bei mir war. Und Gerüche! Sie können dich sofort in die Vergangenheit zurückversetzen: der Duft einer Kochstelle. Die Kinder in der Polioklinik. Der beißende Geruch von Desinfektionsmitteln in der Klinik, wo mein Vater arbeitete.  

Das sind sicher Impressionen, die sich einem als Kind ins Gedächtnis brennen. Haben sie heute noch Einfluss auf Ihre Kunst?  

Der Körper als Silhouette, als Skulptur ist immer Teil meines Werkes. Als kleines Mädchen habe ich die Deformationen, die verdrehten Gliedmaßen der anderen Kinder allerdings gar nicht wahrgenommen. Es waren einfach Spielkameraden. Ich erinnere mich, dass wir unsere Arme und Beine verglichen haben. Ich fand ihre Körper weder beängstigend noch seltsam, eher schön auf eine spezielle Weise.

Warum bleiben Ereignisse aus den ersten Lebensjahren so präsent?

Als sensibles Kind nimmst du gerade in den ersten Jahren alles enorm intensiv auf. Es ist, als würde man programmiert werden. Das Gesehene und Erlebte ist in meinem Rückgrat, in meiner Blaupause angelegt. Daher kommt auch meine anhaltende Sehnsucht nach Afrika.

Als Sechsjährige sind Sie nach Holland gezogen. Ein Schock?

Ich fühlte mich gefangen in einem falschen Universum, so als würde mein richtiges Leben in Kenia ohne mich weitergehen. Ich musste Schuhe tragen! Und ich mochte keine Milch mehr. Im Dorf war bekannt, dass die Milchfrau ein paar Tropfen in die Milch pinkelte, um sie haltbar zu machen. Das schmeckte irgendwie besser (lacht).

Neben collagierten Körperteilen sind starke Licht-Schatten-Kon-traste ein Merkmal Ihrer arbeiten. 

Die scharfen Schattenwürfe entstammen auch den prägenden Ostafrika-Jahren.Wie Sie wissen, ist das Licht am Äquator sehr hart. Als ich Anfang 2000 wieder ein-
mal dort war, sah ich einen Jungen, der im Schatten einer Palme schlief. Plötzlich fiel mir auf, wie sich sein Schatten verselbstständigte, als wäre es ein Charakter mit einer Persönlichkeit. Normalerweise würden Fotografen niemals im gleißenden Mittagslicht arbeiten. Aber genau das habe ich als fotografisches Mittel für mich entdeckt und weiterverfolgt.

Bevor Sie in Arnheim den Master in Fotografie machten, studierten Sie Modedesign. Wieso der Wechsel?

Ich stellte fest, dass ich nicht wirklich an Kleidung interessiert war. Dann modelte ich eine Zeit lang, wollte aber bald selbst die Kontrolle über ein Motiv haben – wie die Fotografen, mit denen ich arbeitete.

Inszenieren Sie deshalb viele Ihrer Aufnahmen?

Den Entschluss traf ich während meines Studiums. Ich hatte damals realisiert, dass das Bild von Afrika in den westlichen Medien sehr vereinfacht ist: Entweder gab es körnige Schwarz-Weiß-Bilder, Porträts à la Leni Riefenstahl oder National Geograficartige Reportagen, aber eben nicht das, was ich als Kind gesehen hatte. Ich fragte mich: Warum fotografieren alle im dokumentarischen Stil, warum kann ich Bilder nicht inszenieren? Da hat es Klick gemacht. Ich begann auf ganz andere Weise zu fotografieren, arrangierte meine Sujets und spielte mit Abstraktion und Realität – etwas, das kaum jemand machte. 

Was waren Ihre ersten Projekte?

Als ich noch sehr jung und im Modestu-dium war, mussten wir Materialien um unsere Körper drapieren und das dokumentieren. Ich legte den Schlauch eines Lkw-
Reifens um den nackten Körper einer Freundin oder arrangierte Kalebassen drum herum. Schon damals experimentierte ich mit grafischen Elementen. Einige dieser frühen Selbstporträts und Studioarbeiten sind auch Teil meiner ersten großen Retrospektive in Paris.

Neben Ihrer freien Kunst realisieren Sie Kampagnen für die Big Player der Modeindustrie: Louis Vuitton, Dior, Missoni …

Genau, auch das ist ein Großteil meiner Arbeit und ziemlich aufwendig. Die Louis-Vuitton-Shoots machten wir in Griechenland, Frankreich, Island, Jordanien und Nordamerika sowie im Winter in Chile auf einem Vulkan mit Jeeps und Schneescooter. Gearbeitet haben wir dort mit einheimischen Kindern. Die Requisiten in Primärfarben hatte ein Propdesigner nach meinen Ideen angefertigt. Heute wollen Brands mehr und mehr Inhalt: Behind-the-Scenes-Filme und Outtakes für die -sozialen Medien. Wenn Videos involviert sind, haben wir bis zu 100 Leute am Set. 

Haben Sie Bilder vor dem inneren Auge, schon bevor Sie auslösen?

Ich denke sehr visuell. Früher habe ich Motive, die ich machen wollte, zusätzlich in Skizzenbüchern vorgescribbelt. Damals entstanden viele meiner freien Arbeiten analog. Seit ich aber diese super Mittelformatkamera Phase One habe, mit extrascharfen Dateien, sind auch meine eigenen Projekte nur noch digital.  

Bearbeiten Sie Ihre künstlerischen Arbeiten nachträglich digital?

Nein, man könnte denken, dass ich die Farben hochdrehe, aber es ist die Inten-sität des Fuji-Films, den ich nutze. Und ich mache nach wie vor viel manuell, etwa kleine Prints, die ich zerschneide, die Fragmente von Menschen und Pflanzen dann zu Kollagen komponiere oder sie mit Tinte und deckender Farbe bepinsele. 

Gibt es für Sie eine klare Grenze zwischen Ihrer freien Kunst und der Werbefotografie?

Ja, es sind zwei Seiten meiner Persönlichkeit: Meine privaten Arbeiten sind introvertierter, intimer, die für die Mode extrovertierter und kollaborativer. Ich liebe es, beides zu machen. Beide Bereiche befruchten sich gegenseitig. 

Sehen Sie sich als Surrealistin?

Das würde ich schon sagen. Wenn ich mir die Kunstgeschichte anschaue, spricht mich das Werk von Man Ray oder René Magritte am meisten an. Dennoch sollte die Fotografie mit der Realität arbeiten. Daher bewege ich mich irgendwo zwischen Realismus und Surrealismus. 

Wird da nicht KI zur Konkurrenz? 

Ich glaube, KI wird sich zu einem neuen, ganz eigenen Medium entwickeln.  

Es gab den Vorwurf, dass Sie schwarze Menschen überästhetisieren. Was meinen Sie? 

Jeder bringt seine eigenen Referenzen mit. Ich bin daran interessiert, beim Betrachter eine Art Ambiguität und Raum für Interpretationen zu erschaffen. Das lässt dich deine vorgefertigten Ideen überdenken. Zu meiner Verteidigung: Ich behandele schwarze Körper nicht anders als weiße. Aber ich realisiere, dass ich damals ein weißes junges Mädchen mit einer Kamera in der Hand war, einem tool of power. Für mich war es aber ein Mittel, um mit dem Gegenüber zu kommunizieren.

Wann geht es zurück nach Afrika?

Da ist tatsächlich etwas geplant. Zusammen mit meinem Sohn und meinem Partner, der in Sambia aufgewachsen ist, möchte ich einige Monate in Moshi, Tansania, überwintern. Ich bin sehr neugierig, was daraus entstehen wird. Immer wenn ich dorthin zurückkomme, fühle ich mich auf einem sehr tiefen Level zu Hause. Aber ich werde nie wirklich Teil dessen sein.