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Saul Leiter: Streetlife

Seine Eltern wollten, dass er Rabbiner wird. Aber Saul Leiter entschied sich für ein anderes Leben. Seine Liebe galt der Fotografie und der Malerei. Die Motive fand er auf der Straße, gewissermaßen vor der Haustür. Seine Arbeiten zeigen die Schönheit des Alltäglichen.

Das Portfolio

»Ein mit Regentropfen bedecktes Fenster interessiert mich mehr als das Foto einer berühmten Person.«

Saul Leiter wäre im Dezember 2023 einhundert Jahre alt geworden. Doch er starb am 26. November 2013, nur eine Woche vor seinem neunzigsten Geburtstag. Fast bis zum Schluss ging der Fotograf durch die Straßen des New Yorker East Village, stets mit der Kamera in der Hand, neugierig auf die Szenen, die sich um ihn herum abspielten und die er mit seiner Linse festhalten wollte. Das war Saul Leiters tägliche Praxis über Jahrzehnte hinweg. 

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Saul Leiter umringt von neugierigen Kindern auf Sizilien.

Leiter reagierte auf das, was er sah. Obwohl er zu bestimmten Lieblings­motiven zurückkehrte, hatte er nicht etwas Bestimmtes im Sinn, das er foto­grafieren wollte. Er hatte keinen Impuls, die Ereignisse zu kon­trollieren oder zu arrangieren, die sich vor ihm abspielten, oft nur wenige Schritte von seinem Zuhause entfernt. Er blieb einfach präsent, im Augenblick, eingestimmt auf die magischen Momente des täglichen Lebens.

»Ich glaube an die Schönheit der ein­fachen Dinge«, sagte Saul Leiter 2006 in der Radiosendung Lake Effect in Milwaukee. »Ich glaube, dass die ­uninteressantesten Dinge sehr inte­ressant sein können.« In seinen Bildern fin­den wir eine erhöhte Sensibilität für die Komplexität des Gewöhnlichen, eine einzigartige Fähigkeit, visuelle ­Ab­straktion mit tiefer Emotion und einem Auge für Schönheit zu verbinden. Die Tatsache, dass Leiter sein Le­ben lang Maler war, beeinflusste sei­ne Fotografie in Bezug auf Farbe und Kom­­posi­tion gleichermaßen. Als Autodidakt verfügte er über ein enzyklo­pädisches Wissen der Kunstgeschichte. Seine Fotografie wurde vielleicht eher von seinen Lieblingsmalern beeinflusst – darunter Bonnard und Vuillard – als von anderen Fotografen.

»Bei der Fotografie geht es darum, Dinge zu finden. Bei der Malerei ist das anders – da geht es darum, etwas zu schaffen.«

Saul Leiter wurde 1923 in Pittsburgh geboren und zog 1946 nach New York City. Damit entzog er sich dem Einfluss und den Erwartungen seiner Eltern, die sich von ihm wünschten, dass er, wie die anderen Männer seiner Familie, ein orthodoxer Rabbiner werden würde. Zu dieser Zeit beschäftigte er sich bereits mit Malerei und Fotografie und dachte darüber nach, seinen Lebensunterhalt mit der Kamera zu ver­dienen. In den späten 1950er-Jahren startete er dann tatsächlich eine erfolgreiche kommerzielle Karriere mit Ver­öffentlichungen in Modemagazinen wie Esquire und Harper’s Bazaar. Wenn er nicht gerade durch sein Viertel lief und Aufnahmen von alltäglichen Straßen­szenen machte, malte er zu Hause und fotografierte Porträts von Freunden.

»Ich sehe etwas. Und mache ein Foto.«

In den späten 1940er-Jahren begann Saul Leiter mit der Verwendung von Farbdiafilmen, zu einer Zeit, in der nur die Schwarz-Weiß-Fotografie als Kunst ernst genommen wurde. »Aus irgend­einem seltsamen Grund, den ich nie verstehen werde, wurde Farbe zu bestimmten Zeiten verachtet«, sagte er dem Schriftsteller Vince Aletti 2013 in einem Interview. Damit fügte Leiter seinem Werk einen Aspekt hinzu, der für ihn ausgesprochen naheliegend war, aber anscheinend weniger für die Entscheidungsträger der Kunstform Fotografie in der Mitte des 20. Jahrhunderts: »Wir leben in einer Welt der Farbe. Wir sind von Farbe umgeben.«

In den 1970er-Jahren entfernte sich der Künstler von der kommerziellen Foto­grafie. In den 1980ern kämpfte er zwar mit finanziellen Schwierigkeiten, produzierte aber so viel wie eh und je. 2006 wurde sein erstes Buch Early Color veröffentlicht, welches die Geschichte der Fotografie beeinflusst hat. Es enthüllte einen bis dahin obskuren Visionär, der in den 1950ern pointiert in der farbigen Straßen­fotografie arbei­­tete – lange bevor dies in Mode kam.

»Ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, ignoriert zu werden. Das war mir immer sehr recht.«

Seit seinem Tod hat die Saul Leiter Foundation unter der Ägide von Leiters langjähriger Freundin und Gale­ristin Margit Erb Bücher publiziert und Ausstel­lungen in aller Welt organisiert. Die vorliegenden Bilder stammen aus den beiden jüngsten Monografien der Stiftung, Unseen Saul Leiter und Saul Leiter: Die große Retrospek­tive, beide bei Kehrer erschienen. Heute setzt die Stiftung die Erforschung von Leiters umfangreichem Archiv fort, angetrieben von der Idee, in den kommenden Jahren neu entdeckte Werke zu präsentieren.

Michael Parillo, Saul Leiter Foundation

»Um Karriere zu machen und erfolgreich zu sein, muss man entschlossen sein. Man muss ehrgeizig sein. Ich trinke viel lieber Kaffee, höre Musik und male, wenn mir danach ist.«