The God of Small Things
Von Till Briegleb
Architekten sind in der Regel bemüht, ihre Projekte in optimistischem Licht zu präsentieren, bei Sonne oder nachts von innen beleuchtet. Nicht so Bijoy Jain. In den Videos über seine Bauten regnet es häufig.
Das liegt nicht nur daran, dass seine Architekturwerkstatt Studio Mumbai in einem Land liegt, das fünf Monate Monsun erlebt. Der Inder hat eine besondere Beziehung zu Wasser. Als ehemaliger Leistungsschwimmer durchquerte er den Ärmelkanal, als philosophischer Architekt sucht er das Fließende und Grenzüberschreitende. Die melancholische Aura des Regens, das Plätschern der Tropfen in den Innenhöfen und das weichzeichnende Dämmerlicht eines bewölkten Himmels ist folglich die Stimmung, die seinen Entwürfen und seiner Arbeitsweise verwandter ist als die grelle Sonne.
Sein Büro in Mumbai, ein vielteiliger Komplex inmitten hoher Bäume, erinnert zunächst eher an eine Manufaktur oder mittelalterliche Bauhütte. An Maschinen, teilweise unter Wellblechdächern, wird gesägt, gefeilt, geschweißt. Überall liegen Materialien, Farbmuster und Mock-ups herum.
Es gibt auch eine Bibliothek mit langem Tisch, an dem hinter aufgeklappten Laptops junge Menschen still grübeln und berechnen. Doch das wirkt in dieser archaisch anmutenden staubigen Werkstatt mit dösenden Hunden beinahe wie ein Stilbruch. In diesem Reich, wo Konzeption und Handwerk in einem ständigen Austausch miteinander stehen, der von dem nimmermüden König Jain über den ganzen Tag sprechend am Laufen gehalten wird, ist eine Vorstellung von Baukultur bewahrt, die aus der Vormoderne stammt. Nichts hat dieser wuselige Betrieb aus Gespräch und Handarbeit gemein mit den cleanen Büros zeitgenössischer Architektur, in denen Gebäude körperlos am Computer entstehen und wo auch Bijoy Jain gelernt hat, etwa in den 1990er-Jahren bei Richard Meier in Los Angeles.
Dazu passt die Gründungsanekdote zu Jains Baupraxis: Gerade zurückgekehrt von einem langen Aufenthalt in den USA und in Europa, wo er seinen Wissensdurst über kulturelle Ausdrucksformen und Methoden seit der Renaissance gestillt hatte, verwarf er seinen ersten eigenen Entwurf auf der Baustelle des Tara House in Kashid als sinnlos, um ihn dann gemeinsam mit den Handwerkern, basierend auf deren Know-how, völlig neu zu entwickeln.
1995 dann startete der heute 58-Jährige sein Studio Mumbai in Alibaug, einer ländlichen Gegend rund zwei Autostunden von Mumbais Zentrum entfernt. Abseits der lärmenden Hektik der Metropole entwickelte er mit Schreinern und Steinmetzen jene charakteristischen indischen Wohnhäuser, die das Traditionelle einer ländlichen Baukultur mit Jains fundierten Kennt- nissen über die Kulturen der Welt und die Ideen der Moderne verbinden. Es sind keine groß dimensionierten Projekte, die hier erarbeitet werden. Meist maximal eingeschossige Wohn und Ateliergebäude mit Innenhöfen, die aus ortsspezifischen Materialien errichtet werden: Ziegel, viel Holz, manchmal Kupfer, Bambus, Ton oder Bruchsteine prägen die sehr persönlichen Domizile, die immer auf das Lokale reagieren. Ihr Spirit ist die starke Empfind- samkeit für die Landschaft, in der sie stehen, für die Baustoffe, die sich aus ihr gewinnen lassen, und für regionale Kultur.
Bijoy Jains Sensibilität für Dinge, die Sinn an dem Ort ihres Entstehens machen, lebt dabei ganz natürlich im Geist der Nachhaltigkeit. So wurde das Ahmedabad House 2014 aus Ziegeln erbaut, deren Lehm aus dem Aushub der Baugrube stammte. Das Tara House ruht auf einem Wasserreservoir, in dem der Monsunregen für Trockenzeiten gesammelt wird. Das Hillside Retreat im Himalaja wurde nicht nur vollständig aus ortsnahen Werkstoffen konstruiert und eingerichtet, sondern auch störungsfrei in die Hanglandschaft eingepasst. Und beim hölzernen Palmyra House am Meer bei Mumbai inmitten einer Kokosplantage lautete die erste Regel, so wenig Palmen zu fällen wie möglich.
Charakterlich wirken Jains Gebäude oft eher introvertiert, nach innen gekehrt zu den leisen Höfen, die er in immer neuer Poesie entwickelt. Mal japanisch inspiriert, mal den Patios der Iberischen Halbinsel oder marokkanischen Riads nachempfunden, dann wieder in offener Folge wie in einem Schulbau der Nachkriegsmoderne. So auch sein eigenes Gebäude im Kern der Anlage in Alibaug.
In dem quadratischen Innenhof lagern Fundstücke und Skulpturen aus unterschiedlichen Materialien, die er herstellen lässt und als Inspiration nutzt. Dahinter, in einer verglasten Galerie, breitet sich die endlose Kreativität des Entwerfers weiter in Objekten und Prototypen aus. Denn er zieht keinen Damm zwischen Kunst, Design und Baukultur. Er malt mit Pigmenten, entwirft Möbel aus Kalkstein (unter anderem einen Sessel für Hermès), experimentiert mit von Hand errichteten Strukturen wie dem schirmartigen MPavilion aus sieben Kilometer Bambus und 26 Kilometer Seil, den er 2016 in Melbourne schuf, und stellte im selben Jahr auf der Achitekturbiennale von Venedig Gebäudefragmente aus Lehm und Rinde vor. Alles fließt in diesem Geist, in dem Studio und in den Projekten, die Bijoy Jain weltweit realisiert.
Das neueste ist eine Soloschau in der Fondation Cartier in Paris mit dem Titel Breath of an Architect. Darin inszeniert er ein fantastisches Gedicht der Materialien, um den Geist seiner Architekturidee spürbar zu machen ohne ein einziges Beispiel seiner realisierten Bauten zur Ansicht zu bringen. 80 Handwerker in seinem Studio arbeiteten Monate an dieser Inspirationslandschaft, die er in der von Jean Nouvel erbauten Fon- dation und durchaus im Kontrast zu deren Architektur zeigt und mit der er zu Kontemplation, zum Träumen und Denken einlädt. Ein flüchtiges Statement des geerdeten Schaffens von einem umherschweifenden Geist, der über sein »Büro« sagt: »Studio Mumbai hat kein Manifest oder eine Agenda. Es ist eine organische Evolution an einem Ort ohne Grenzen.«
Jain fordert für sich stets die maximale Unabhängigkeit von äußerem Druck, um sich der »Freiheit des Ausdrucks« zu widmen. Wegen seines Ansehens als Ausnahmearchitekt, der Jahrhunderte und Kontinente harmonisch verbindet, kann er die Dienstergebenheit gegenüber Klienten zwanglos halten: »Früher war die Arbeit des Studios sehr architektur und projektorientiert. Heute ist sie fließender und erforscht Gedanken, Ideen und Materialien ohne bestimmte Absicht.« Dabei spielt das Spirituelle bei Bijoy Jain eine weitaus größere Rolle als bei westlichen Architekten: »Meine Idee eines Gebäudes kommt der Idee eines mythischen Wesens sehr nahe. Architektur ist für mich eine Erweiterung des menschlichen Körpers, vergleichbar mit der Kleidung, die wir tragen«, so Jain. »Sie zeigt mir als physische und materielle Manifestation und präzise Darstellung, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.«
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